von Anne Diedrich
Im mecklenburgischen Landkreis Güstrow liegt ein Dorf der Exoten: Auf fast jeden der gut 500 Einheimischen kommt in Lelkendorf ein Bewohner aus Tadschikistan, Großbritannien, Chile, Ungarn, Italien, Dänemark, der Schweiz oder China. Es sind bedrohte Exoten: Kleine Gruppen alter Haustierrassen, Ziegen, Schafe, Pferde und Rinder. Von ihnen gibt es häufig nur etwas mehr, Menschen in Lelkendorf wohnen, meist liegt ihre Zahl sogar darunter. Die Nutztier-Arche desmecklenburgischen Dorfes ist deshalb ihre Rettung, und Jürgen Güntherschulze ihr Noah.
Der 62-Jährige ist Leiter und Geschäftsführer des Haustierparks Lelkendorf. Die Aufgabe, seltene Tierrassen vor dem Aussterben zu bewahren, hat er sich selbst gestellt. Deshalb nimmt er sie so
ernst. Sein Park, sagt er, sei nicht zum Lustwandeln da – jedenfalls nicht nur. „Ich bin nicht hier, um die Lelkendorfer glücklich zu machen, sondern um ein Genreserve-Zentrum aufzubauen“,
erklärt der Biologe.
„Genreserve-Zentrum“ das klingt groß für die 16 Hektar Parkgelände mit einem kleinem Kassenhäuschen, einem Schuppen und zwei 600-jährigen Eichen. Angesichts der 52 hier versammelten, gefährdeten
Tierrassen findet Güntherschulze die Bezeichnung jedoch berechtigt. 400 robuste, freundliche Tiere bringt der Haustierpark zusammen, die selbst bei karger Kost gut zurechtkommen, von denen viele
auf natürliche Weise resistent sind gegen Parasiten oder beispielsweise Euterentzündungen. Dass genau diese Tiere gebraucht werden, davon ist Güntherschulze überzeugt. Denn vital und genügsam
sind die Tier-Rassen der industriellen Landwirtschaft schon lange nicht mehr. „Die Industrie interessiert sich heute nur noch für so genannte „Einnutzungsrassen“, erklärt Günterschulze. So werden
Tiere genannt, die nur in einem Bereich stark sind, dort aber extrem hohe Leistungen bringen: viel Fleisch, viel Milch, viele Eier. Genetisch eine Sackgasse, sagt der Tierpark-Leiter. Die Tiere
sind so in eine Richtung getrimmt, dass ihr Erbgut völlig verarmt ist. Das macht sie anfällig für Krankheiten und Verhaltensstörungen.
Jürgen Güntherschulze erklärt dies mit einem Bild: Wenn man sich die Vitalität von Tieren als einen Eimer mit 100 Murmeln vorstellt, dann ist der des Wildtieres bis oben hin gefüllt. Bei den alten Haustierrassen enthält der Eimer noch in etwa 80 Murmeln, während es bei den „Einnutzungsrassen“ nur zehn mickrige Murmeln sind. Empfindliche, kurzlebige Tiere, die in sterilen Umgebungen gehalten werden müssen, sind die Folge.
„Es wird ein Tag X kommen, an dem werden die alten Haustierrassen dringend zum Einkreuzen gebraucht“, sagt Güntherschulze. Weil sie im Moment wirtschaftlich uninteressant sind, lasse man sie aber aussterben. Die Welternährungsorganisation hat errechnet, dass jeden Monat eine der weltweit 7600 verzeichneten Nutztier-Rassen für immer verloren geht.
Es ist allerdings nicht nur diese alltägliche Verkleinerung eines abstrakten Genpools, die Güntherschulze zur Rettung der Haustierrassen bewegt, er fühlt sich verantwortlich für die Tier und die nachfolgenden Menschen-Generationen. „Es wäre ein Verbrechen an unseren Kindern und Enkelkindern, wenn diese Rassen aussterben.“
Damit das nicht passiert, setzt der 62-Jährige auf mehrere Dinge: Sein eigenes Zuchtprogramm, ein weitgefächertes Netz von Gleichgesinnten und die Wirkung, die der Haustierpark auf seine Besucher hat. Und die ist seiner Meinung nach ziemlich positiv. Das liegt auch daran, dass man es in Lelkendorf gerade mit Haustieren zu tun hat: Sie sind Menschen gewöhnt, lassen sich anfassen und füttern. Doppelzäune oder dicke Glaswände wie in großen Zoos gibt es in Lelkendorf nicht. Stattdessen gehen Hühner und Ziegen schon mal außerhalb ihrer Gehege auf Spaziergang. „Mit Schulklassen gehe ich auch zu den großen Husum-Ebern in den Schweinestall“, sagt Güntherschulze. Das ginge mit einem normalen Zuchteber nicht, eher würde der einen in der Luft zerreißen, so der Biologe. Weil die Tiere im Haustierpark aber in den natürlichen Familiengruppen zusammen leben, seien sie ausgeglichener. Die Kinder können sie streicheln, sich sogar auf ihre Rücken setzen.
Solche Interaktion muss sein, glaubt Güntherschulze, weil die Menschen dann leichter begreifen, wie wichtig der Schutz der Tiere ist. Das versucht der Tierpark auch über eine ziemlich ungewöhnlichen Weg zu vermitteln: den Magen. „Aufessen schützt“, sagt Jürgen Güntherschulze, auch wenn das paradox klingt. Die Rassen hätten nur dann eine Chance, dauerhaft zu überleben, wenn sie genutzt werden. Und das schließt ein, das einige von ihnen ab und zu auf dem Teller landen.
Kommentar schreiben